Erfahrungsberichte Lateinamerika
12.03.2017

Weißes Stroh – mein Freiwilligendienst mit VOLUNTARIS

3 Monate als Physiotherapeutin in Südamerika

Erfahrungsbericht von Andrea Nießner

Im Winter 2012/13 habe ich 3 Monate als Physiotherapeutin in Salinas de Guaranda / Ecuador gearbeitet. Schon lange wollte ich abseits touristischer Routen nach Lateinamerika reisen, und im Rahmen eines Auslandsaufenthaltes meine Berufs- und Lebenserfahrung einbringen. Als PhysiotherapeutIn braucht man nicht viel mitzunehmen: als Werkzeuge genügen Hände, Kopf und Sprachkenntnisse.

Vermittelt wurde dieser Einsatz durch die Organisation VOLUNTARIS / Wien. Nach ausführlicher Beratung durch das Team von VOLUNTARIS und einem zweiteiligen Vorbereitungskurs entschied ich mich für einen dreimonatigen Einsatz in Salinas de Guaranda, einem kleinen Bergdorf in den ecuadorianischen Anden.Voluntaris GRAZ neu

Dort war in den 1970er Jahren vom italienischen Salesianerpater Antonio POLO eine landwirtschaftliche Kooperative gegründet worden. Zur Pfarre gehören 28 Gemeinden, die sich zwischen der subtropischen Zone (800 m) und dem Hochgebirge der Anden (4.700 m) erstrecken. Mithilfe von Mikrokrediten wurde allmählich in Betriebe investiert (Wolle, Schokolade, Käse, Tee u.a.), aber auch in Bildung, Gesundheit und Sozialprojekte. In dem auf 3.500 m Höhe gelegenen Dorf hatte es davor 85% Analphabeten und eine Kindersterblichkeit von fast 50% gegeben. Die Lebensverhältnisse sind bis heute einfach, vor allem in den kleineren Dörfern wohnt man noch in mit Stroh gedeckten Lehmhütten mit offener Feuerstelle, was bei der starken Rauchentwicklung und nächtlichen Minustemperaturen oft zu chronischer Bronchitis führt.

Mein Eindruck vom DORF und seinen BewohnerInnen

Sie gehen immer. Sie laufen. Setzen ihre Gummistiefel, ihre ausgetretenen Schuhe oder die bloßen Füße in die Landschaft. Hinterlassen Spuren in der regennassen Vulkanerde, auf mühsam bearbeiteten Äckern in den Steilhängen. Frauen mit grellbunten Tüchern: ihr Wärmeschutz bei Kälte, ihre Tragegurten, wenn sie die Molke, den Sautrank, in blauen 10 l Fässern heimtragen oder am Wochenmarkt einkaufen waren. Ein hellgrauer Esel steht angepflockt am Straßenrand, mit einer Eselsgeduld. Tag für Tag am selben Platz. Glücklich, wer ein Lasttier besitzt.

Glücklich ist, wer einen Esel besitzt...
Glücklich ist, wer einen Esel besitzt…

Jeden Dienstag findet in Salinas der Wochenmarkt statt, zu dem die Bauern und Händler ihre Waren zum Verkauf bringen. Gemüse, Fleisch und Obst werden in der großen Halle feilgeboten, die übrigen Bedarfsgüter findet man in Ständen vor dem Gebäude. Da gibt es Haushaltsartikel, Geschirr, meist aus Metall oder Plastik, Milcheimer und –kannen, Kleidung, Handys und Kopfhörer, die schönen bunten Wolltücher. Manchmal macht sich der Schuhhändler breit, Dutzende Gummistiefel hat er heute ausgepackt. Sie sind sehr begehrt, weil sie bei der Feldarbeit und bei langen Märschen im Regen nützlich sind. Denn wenn es hier regnet, dann ausgiebig. Empanadas werden verkauft, gegrillte Forellen und Maiskolben, gebratenes Fleisch. Es riecht nach Verbranntem, eine große Rauchwolke zieht sich durch den Ort, die bei Regen nicht zum Himmel aufsteigen kann und sich wie ein Schirm über den Köpfen der Menschen breitmacht.

Ein großer Bus steht vor der Markthalle bereit, um die Leute wieder in ihre Dörfer zurückzubringen. Er ist bunt bemalt und an den Seiten offen, wirkt etwas altertümlich, und wenn er startet, raucht es hinten schwarz heraus. Da werden Säcke aufgeladen, Schachteln, und nicht selten wird ein Esel oder eine Kuh auf der Ladefläche mitgenommen. Dicht gedrängt sitzen die Menschen auf den Sitzbänken. Meistens riechen sie nach Rauch, da in vielen Häusern ein offenes Feuer brennt. Die Nächte sind kalt, manchmal unter 0°, und Heizungen gibt es kaum hier, zumindest ein großes Scheit hält die Glut immer wach.

Meine Arbeit mit den ADULTOS MAYORES

Tanzen in Peru
Tanzen in den Anden

Das Projekt für SeniorInnen war gerade erst gegründet worden: dreimal wöchentlich finden Zusammenkünfte statt, an denen meist 20-30 von ca. 50 Registrierten teilnehmen. Zu Beginn wird Aktuelles besprochen (Vorträge, Veranstaltungen), dann gibt es einen Block mit Gruppen- und Einzeltherapie (parallel), und am Schluss eine warme Mahlzeit. Gruppengymnastik und Tanz zu ecuadorianischer Musik leiten meinen „Einstieg“ bei unserem allerersten Zusammentreffen ein. Und dieser erste Tanz geht hart an meine Grenzen: während die kleinen, wendigen Indígenas fröhlich herum hopsen, geht mir schnell die Luft aus. Nach erst einer Woche in dieser Höhenlage kein Wunder.

Den Hut behalten die SeniorInnen meistens auf bei diesen Zusammenkünften, er scheint ein Stück ihrer Identität zu sein. Die meisten von ihnen kommen gerne. Da wird geplaudert, werden die Neuigkeiten aus dem Dorf erzählt. Mercedes, die Leiterin des Projekts und ich wechseln uns in der Betreuung ab, bei den Einzeltherapien arbeiten wir manchmal parallel.

Rosa M. versäumt kein Treffen. Sie kommt aus Yuraucsha, das auf 4.200 m liegt, und geht fast zwei Stunden bis hierher. Das erste, was sie im Zentrum macht, ist aufs Laufband zu steigen und in ihren Gummistiefeln flott dahin zu schreiten. Die CD mit ecuadorianischer Volksmusik läuft. Am Schluss ist die ganze Erde am Boden. Manchmal tragen die Menschen keine Strümpfe. Stecken in den bloßen Schuhen. Schwarze Füße, voller Erde. Bei dieser Kälte.

HAUSBESUCHE und anderes

Eine Heimbehandlung erhielten: ein Krebspatient, eine Patientin mit Schlaganfall, ein Patient mit Knieproblemen und ein nach Schädelhirntrauma schwer spastisches Kind, das in einem kleinen Dorf zu Hause ist.

Auch heute fahren wir auf der rumpeligen Straße nach Yacubiana.

Meine Arbeitsumgebung in den Dörfern der ecuadorianischen Anden

Ich wundere mich, wie steil die Hänge sind, an denen noch Kartoffeln angebaut werden. Immer höher geht es hinauf, der Nebel wird dichter, bis das kleine Dorf verschwommen auftaucht. Padre Antonio bleibt vor einem neu gebauten Haus stehen, die Türe ist verschlossen. Silvia, die Mutter, öffnet uns und führt uns in das Kinderzimmer. Marcito liegt auf vielen Decken mit einer dunkelblauen Mütze im Bett. Im Raum ist es ziemlich kühl, die elektrische Heizung funktioniert derzeit nicht. Wie ich später erfahre, wurde mit Unterstützung der Familia Salesiana ein Haus für die Familie gebaut, damit die Pflege leichter zu bewerkstelligen ist. Fotos vom Hausbau hängen an der Wand, Fotos von Marcito im Rollstuhl, von seinen Eltern und den italienischen Voluntären, die beim Bau mitgeholfen haben. In der Küche ist ein Gasherd eingebaut, denn die Rauchentwicklung eines offenen Feuers wäre für das schwerbehinderte Kind schädlich gewesen, denn Marcito ist längere Zeit im Koma gelegen.

Wir überreichen Silvia unsere Mitbringsel. Zuerst ordnet sie die Decken auf dem Bett, dann nimmt sie ihr Kind in den Arm. Dabei spricht sie unentwegt mit ihrem Sohn, dass nun die Señora gekommen sei, um ihn zu bewegen, ihm Gutes tun wird, dazwischen singt sie ihm Lieder vor. Mir erzählt sie, dass sie ihn täglich bewegt, und wie ihr Tagesablauf sei. Dass sie ihn zwischendurch alleine lassen muss, weil sie am Morgen die Kühe melken muss, ihr Mann bringt die Milch in die Käserei. Das Schönste wäre, wenn er ein paar Worte sprechen könnte, sagt sie. Wir sprechen über Medikamente, die Prognosen der Ärzte.

Ein Hausbesuch

Später gibt sie ihn mir, ich spüre, was ich schon gesehen habe, das Kind ist schwer spastisch. Verschaffe mir einen Überblick, wie beweglich seine Gelenke sind, und wie er auf meine Ansprache reagiert. Silvia lässt uns alleine. Beim Bewegen der Gelenke weint er manchmal leise, ist aber zu beruhigen, vor allem, wenn ich Kinderlieder singe, mit ihm spreche. Sein Vater erzählt mir, dass er vor seinem Unfall ein besonders gutes Verhältnis zu Tieren gehabt habe, schon mit 6 Jahren am Pferd geritten sei. Und er wünsche sich Fotos, die das Kind vor dem Unfall zeigen.

Außer Marcito behandle ich während meines Aufenthalts Padre Antonio, Büroangestellte, italienische Voluntäre und Strickerinnen von TEXAL, mit denen ich Ausgleichsübungen für ihre oft belastende Arbeitshaltung erarbeite. Mit „Strichweiberln“ zu Papier gebracht hängen wir das Plakat im Betrieb auf.

Voluntaris GRAZ (27)

Abgesehen von meiner Arbeit als Physiotherapeutin betreue ich auch gerne den Gemüsegarten, der zum Pfarrhaushalt gehört. An dem Tag, an dem mir Padre ANTONIO den Garten gezeigt hat, habe ich begonnen, mich heimisch zu fühlen. Wenn ich nur irgendwo auf der Welt einen Garten bestellen, in die Erde greifen kann. Einen Monat später werde ich anregen, einen Komposthaufen anzulegen. Und der Padre sagt, „Dann werde ich immer an Dich denken, wenn ich den Biomüll ausleere.“ Der Kompost, Sinnbild für den Kreislauf vom Werden und Vergehen. Hier wie dort. Ich werde den Kindern, die mir dabei helfen, erklären, wie wertvoll diese Erde ist, dass die Mikroorganismen aus dem Abfall wunderbare Erde zaubern können. Und dass das nichts kostet, außer ein wenig Betreuung.

Ich habe vieles von meinem Aufenthalt dort mitgebracht: dass man auch außerhalb unserer Standards sinnvolle berufliche Arbeit leisten kann, eine Arbeit, bei der Flexibilität und Improvisation täglich gefragt sind. Mit Padre Antonio teilte ich mein Interesse für Botanik, lernte die Vielfalt der Fauna und Flora Ecuadors kennen. Ich erlebte die Tradition und Kultur dieser Menschen, und wie ausgelassen FIESTAS gefeiert werden.

Für mich war es eine wunderbare Erfahrung, und die Herzlichkeit dieser Menschen hat mich tief berührt.

(Fotorechte: Andrea Nießner / Danke an voluntaris und Andrea Nießner für die Genehmigung zur Veröffentlichung dieses Beitrags!)